Ukraine-Russland-Krieg in Fotos: Die Menschen, die im Krieg bleiben

Soldaten, Rentner, Priester, Ärzte und Verletzte: Viele dürfen, können oder wollen die Ukraine jetzt im Krieg nicht verlassen. Jan Jessen (Text) und Reto Klar (Fotos) haben die Menschen dort getroffen und um etwas Zeit für ein Porträt und ein Gespräch gebeten. Sie erzählen, warum sie bleiben, einige zeigen ein letztes Handy-Foto aus friedlichen Tagen.

Olga Zhuchenko (39), Kriegsverletzte aus Popasna

Fotos: Reto Klar

„Es ist ein Wahnsinn, was gerade passiert. Es gibt so viele Tote“, sagt Olga Zhuchenko. Sie ist gerade von der Intensivstation des städtischen Notfall-Krankenhauses in Lwiw (Lemberg) auf ein normales Zimmer verlegt worden. Ihr rechter Arm wird von einem Gestell zusammengehalten, ihre Beine sind geschient. Die 39-Jährige stammt aus Popasna, einer Kleinstadt im Oblast Luhansk im Osten der Ukraine. Dort hat der Krieg bereits 2014 begonnen – zwischen der Ukraine und den prorussischen Separatisten.

Am 7. März sei der Beschuss besonders heftig gewesen, sagt Zhuchenko. „Jede Sekunde gab es Explosionen.“ Um 10.40 Uhr schlägt ein Geschoss auf dem Balkon ihrer Wohnung im dritten Stock des Plattenbaus ein. Zhuchenko ist gerade mit Neyla, der 82-jährigen Nachbarin, im Schlafzimmer. Neyla stirbt. „Ich habe nur gespürt, wie mich etwas in den Rücken und an meine Hand trifft.“ Sie zeigt ein Bild mit ihrem Lebensgefährten. Er habe sie aus der Wohnung gerettet. Polizisten hätten sie dann mit dem Auto in Sicherheit gebracht.

Über Kramatorsk und Dnipropetrowsk ist sie am 27. März nach Lwiw gelangt. Ihre Beine kann sie bis heute noch immer nicht bewegen. Ihre Hand ist zerstört. „Die Knochen in meinem Arm sind komplett zertrümmert.“ Ihr Arzt meint, sie müsse dringend in Deutschland behandelt werden. Immerhin geht es den Kindern gut. Sie sind jetzt bei Angehörigen untergebracht. „Ich glaube, Putin ist verrückt geworden. Brüdervölker sollten sich nicht bekämpfen. Ich habe Verwandte in Russland.“

Wlodomir (33), jetzt Soldat bei Lwiw

Fotos: Reto Klar

„Wenn ich mein Land verlassen hätte, dann wäre ich beschämt, wenn ich irgendwann wieder zurückkehren würde“, sagt Wolodomir. Er steht an einem schwer gesicherten Checkpoint nördlich von Lwiw (Lemberg) in einer neuen Flecktarn-Uniform und ist mit einem AK-74-Sturmgewehr russischer Bauart bewaffnet. Er ist ein Freiwilliger der territorialen Verteidigungseinheiten. „Angst habe ich nicht“, sagte der 33-Jährige. „Natürlich will ich leben. Aber ich bin hier, ich verstecke mich nicht und wenn ich töten muss, dann tue ich das. Das ist meine Pflicht.“

Wolodomir kommt aus Riwne, das liegt siebzig Kilometer südlich vom Einsatzort. „Vor dem Krieg hatte ich ein ganz normales Leben. Ich bin Eisenbahn-Mechaniker und habe für eine Baustofffirma gearbeitet. Ich bin ein Familienmensch. Meine Frau Adeline ist wunderschön. Ich habe drei Töchter, die jüngste, Alicia, ist jetzt ein Jahr und einen Monat alt. Vor drei Jahren habe ich mir ein Haus gekauft. Seitdem habe ich daran gearbeitet, es zu renovieren.“

Seine Frau und er hätten es erst nicht glauben können, dass wirklich ein großer Krieg beginnt. Den Töchtern hätten sie zunächst nichts erzählt, auch nicht, als sie immer wieder im Luftschutzbunker waren. „Aber unsere Kleine hat immer geweint, und meine Frau wurde nervöser. Deswegen habe ich sie dann zu einem Freund nach Prag geschickt. Meine Frau wollte natürlich, dass ich mitkomme, aber das ging ja nicht. Ich wollte aber auch nicht weg.“ Seine kleine Tochter rufe er nun immer mit einem Videocall an, „damit sie mich nicht vergisst, sie ist ja noch so jung“.

Oleh Reshetniak (29), Journalist aus Donezk

Fotos: Reto Klar

Oleh Reshetniak arbeitet in diesem Krieg unter anderem als sogenannter Fixer für ausländische Reporter. Der 29-jährige Journalist kennt die Straßen in der Ukraine, hat gute Verbindungen und kann Kontakte vermitteln. Er ist in Donezk aufgewachsen und hat dort 2014 seinen Universitätsabschluss in Politikwissenschaften gemacht. Den Maidan habe er von Anfang an unterstützt. „Damals hatte ich viel Streit mit meinen Großeltern, weil sie glaubten, dass Russland zu eng mit uns verwoben ist, als dass es uns schaden würde. Als dann die russische Fahne in Donezk gehisst wurde, war dieser Streit vorüber.“

Er sei dann nach Kiew gezogen und Fernsehjournalist geworden. „Häufig habe ich mich mit dem Thema Korruption beschäftigt. 2015 habe ich eine viel beachtete Dokumentation über den illegalen Handel mit Genehmigungen für Reisen in die besetzten Gebiete im Osten gemacht. Das war meine größte Geschichte bisher. Die Fernsehkanäle in der Ukraine werden von Oligarchen kontrolliert. Das Verständnis für Pressefreiheit hier ist also speziell.“

Am frühen Morgen des 24. Februar habe ihn ein Kontakt vom Militär angerufen und gesagt, dass der Krieg beginnen würde. Seine Tochter Ivana hatte erst drei Tage vorher ihren dritten Geburtstag, und seine Frau Anna ist hochschwanger. „Wir erwarten unser zweites Kind Ende April. Deswegen sind wir sofort aufgebrochen und um 5.30 Uhr Richtung Westen gefahren. Jetzt sind meine Frau und meine Tochter in Dänemark. Ich wäre auch dann nicht gegangen, wenn es möglich gewesen wäre. Mein Land braucht mich.“

Taras (60), Offizier einer Anti-Terror-Einheit in Iwano-Frankiwsk

Foto: Reto Klar

„Wir werden keinen Quadratzentimeter unseres Landes aufgeben, auch nicht die Krim oder den Donbass“, sagt Taras. Er sitzt auf einer hölzernen Bank neben Hütten, in denen vor dem Krieg Wanderer Rast gemacht haben. Als der 60-Jährige eine Stunde zuvor an dem Checkpoint an der Grenze der beiden Oblasten Lwiw und Iwano-Frankiwsk angekommen ist, haben ihn die Soldaten freudig begrüßt. Sie nennen ihn „Vuyko“, das heißt Onkel. Er genießt viel Respekt, nicht nur wegen seines höheren Ranges in der Anti-Terror-Einheit. „Er ist wie ein Vater für mich“, sagt einer der jungen Soldaten.

„Ich habe während meines Studiums auch die Militär-Akademie besucht. Danach habe ich zehn Jahre als Ingenieur für Erdölfirmen gearbeitet. Nachdem die Sowjetunion kollabiert war, habe ich meinen Job verloren, danach habe ich Sattelschlepper gefahren. Ich war in vielen europäischen Ländern unterwegs.“ Nach der Maidan-Revolution habe er sich 2014 schnell zur Armee gemeldet und wurde im Rang eines Leutnants aufgenommen. „Ich bin dann im Donbass eingesetzt worden, wo ich zunächst ein Jahr gekämpft habe.“

Der Krieg hat in den vergangenen Jahren immer gebrodelt. „Jetzt ist er explodiert. Ich bin davon nicht überrascht worden“, sagt er. „Es ist mir wichtig zu sagen, dass unser Kampf nicht allen Russen gilt, sondern dem teuflischen Regime, das sie haben.“ Er werde kämpfen, bis die Russische Föderation ganz aus der Ukraine verschwunden sei. „Wenn dieser Augenblick gekommen ist und Frieden herrscht, dann möchte ich gerne wieder am Steuer eines Trucks sitzen und durch Europa fahren. Das wird meiner Seele guttun.“

Igor Hrytsun (53), Priester in Yampil

Foto: Reto Klar

„Wenn du kämpfst, um dein Land zu verteidigen, ist das keine Sünde. Das ist deine Pflicht“, sagt Vater Igor Hrytsun. Er steht in der Dorfkirche der 2000-Seelen-Gemeinde Yampil im Westen des Landes. Die Menschen hier sind tiefgläubig. Der 53-jährige Priester zeigt ein Blatt Papier, darauf stehen 13 Namen. Das sind die Namen der jungen Männer des Dorfes, die jetzt an der Front im Osten kämpfen. „Ich bin seit 22 Jahren Priester in Yampil. Etliche der Männer habe ich selbst getauft.“ Zum Glück sei noch niemand aus Yampil im Kampf gestorben.

In Yampil seien jetzt immer alle in Alarmbereitschaft. „Und das zerstört die Menschen. Wir haben hier keine Psychotherapeuten und deswegen arbeiten wir rund um die Uhr, um den Menschen geistigen Beistand geben zu können. Ich spreche auch viel mit den 900 Flüchtlingen aus dem Osten unseres Landes, die wir hier aufgenommen haben.

Für unsere Jungs beten in unserer Kirche jede Nacht 30 Menschen von 10 Uhr abends bis 8 Uhr morgens. In der Gemeinde sammeln wir jetzt Geld für schusssichere Westen. Natürlich sind auch die Russen Christen. Wir kämpfen nicht gegen Russland. Wir kämpfen für den Frieden. Ich glaube nicht, dass der Krieg bis hierherkommt. Das wird Gott nicht erlauben.“

Vasily Zhukovsky(49), jetzt Soldat bei Lwiw

Fotos: Reto Klar

„Ich hätte mir nie vorstellen können, hier einmal in einer Uniform mit einer Waffe sitzen zu müssen“, sagt Vasily Zhukovsky. Er sitzt auf einem Plastikstuhl in einem kleinen Pavillon auf dem Parkplatz eines Autohauses am Stadtrand von Lwiw (Lemberg). Seine Einheit bewacht hier einen Checkpoint. Immer wieder kommen Männer zum Aufwärmen hinein, streifen ihre Regenponchos ab. Sie grüßen mit „Slawa Ukrajini (Ruhm der Ukraine)“ und der 49-Jährige antwortet: „Herojam Slawa“ (Ruhm den Helden). Es ist die offizielle Grußformel der ukrainischen Armee.

Vor dem Krieg sei er Unternehmer in der Baubranche gewesen. Die Nachricht über Putins Angriff habe bei ihm zunächst ein leichtes Panikgefühl ausgelöst. „Nach kurzer Zeit haben wir realisiert, dass wir etwas tun müssen. Die Familie hat gemeinsam entschieden, hier zu bleiben. Meine Frau und meine Tochter haben die Nachbarschaft organisiert. Ich bin gemeinsam mit meinem Sohn zu unserem Rekrutierungsbüro in Lwiw gegangen.“

Zhukovsky zeigt sich siegesgewiss: „Wir wussten von Anfang an, dass die Russen keine Chance haben. Unsere Moral ist hoch und wir bekommen jede Menge Waffen geliefert.“ Besonders wichtig seien die modernen Panzerabwehrraketen, sagt er. „Ich habe keine Ahnung, wann das hier endet. Ich weiß nur, dass das Wichtigste für die Menschen in der Ukraine jetzt der Frieden ist. Und ich denke, wir sind jetzt in einer guten Verhandlungsposition.“

Maria Makugon (73), Rentnerin in Mali Pidlisky

Foto: Reto Klar

„Wenn die Russen bis hierherkommen, werde ich sie mit meiner Mistgabel angreifen.“ Maria Makugon steht an der Straße Richtung Lutsk, vor ihr ein hölzerner Karren, auf den sie drei Kartoffelsäcke gewuchtet hat. Sie ist eine kleine Frau, trägt ein Kopftuch, einen grau-schwarzen Wollpullover, darunter ein blaues Kleid und dicke Filzpantoffel. Hinter der 73-Jährigen liegen die Felder des kleinen Dorfes Mali Pidlisky, die dunkle Erde glänzt, es hat heute geregnet.

„Ich bin in Mali Pidlisky geboren und aufgewachsen. In unserem Dorf leben 300 Menschen. Ich habe mein ganzes Leben lang hier gelebt. Schon meine Mutter ist hier auf die Welt gekommen. Hier bin ich getauft worden, ich habe hier meinen Mann kennengelernt und meine Tochter auf die Welt gebracht. Mit ihr lebe ich zusammen. Auch meine beiden Enkel leben hier.“

„Ich habe früher als Kellnerin in einem Restaurant in Lwiw gearbeitet. Jetzt verkaufe ich die Kartoffeln, die wir hier anbauen, um ein bisschen zu meiner Rente dazu zu verdienen. Ich habe in den vergangenen Wochen mehrere Explosionen gehört. Ich habe keine Angst. Alles ist in Gottes Händen. Gott ist gut zu allen Menschen. Außer zu den Moskaly (ukrainische Bezeichnung für Russen, ähnlich wie die frühere Bezeichnung „Fritz“ für die Deutschen, die Red.).“

Nazar (28), jetzt Soldat in Iwano-Frankiwsk

Foto: Reto Klar

Wie können diese Nicht-Menschen das meinem Land antun?“, fragt Nazar. Der 28-Jährige steht an einem Checkpoint hinter Lwiw (Lemberg), er trägt Uniform. In seinem Leben vor dem Krieg habe er als selbstständiger Unternehmer in der Logistikbranche gearbeitet.

„Den Kriegsausbruch am 24. Februar habe ich auf Telegram mitbekommen.“ Er habe sich viele Videos des Kriegsgeschehens angeschaut, eines hat sich ihm tief ins Gedächtnis gebrannt. „Ein Vater hatte sein kleines Kind in ein Krankenhaus gebracht. Es war bei einem Beschuss durch Artillerie schwer verletzt worden. Die Ärzte konnten es nicht retten. Ich hatte tagelang einen Kloß im Hals, nachdem ich dieses Video gesehen habe.“

Er habe dann gemeinsam mit seiner Frau überlegt, was zu tun sei. „Ich habe sie und unser Kind dann ins Ausland geschickt und mich bei der Armee gemeldet. Ich bin ja gesund und kann deshalb mein Land mit der Waffe verteidigen.“

Taras Matviychuk (38), Soziologe aus Yampil

Fotos: Reto Klar

„Wir werden gewinnen, weil Gott mit uns ist“, sagt Taras Matviychuk. Er steht elf Kilometer westlich von Lwiw (Lemberg) vor dem Checkpoint an der Zufahrtsstraße nach Yampil, den er und die anderen Männer von der lokalen Bürgerwehr bewachen. Sie haben gegenüber einem Heiligen-Häuschen Sandsäcke zu einer kleinen Stellung aufgetürmt, von der die blau-gelbe ukrainische Fahne und die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufstandsarmee wehen, die im Zweiten Weltkrieg zwischenzeitlich mit der Wehrmacht kollaborierte und danach noch mehrere Jahre die Rote Armee bekämpfte. Niemand an dem Checkpoint trägt Waffen.

Der 38-Jährige ist hier aufgewachsen und von Beruf Soziologe. „Ich hatte gestern ein Vorstellungsgespräch bei der Polytechnischen Universität in Lwiw. Da soll ich am 1. April anfangen zu unterrichten. Wir haben uns vom ersten Tag an zusammengetan und diesen Checkpoint errichtet. Wir sind keine Kämpfer, dazu braucht man Training. Aber wir regeln hier den Verkehr und halten die Straße für das Militär frei. Natürlich werden wir im Ernstfall auch unsere Familien verteidigen.“

Der Krieg ist auch hier im Westen der Ukraine spürbar. „Jeden Tag geben die Sirenen Luftalarm. Am Samstag haben wir die schweren Explosionen bis hierhin gehört, als die Russen Lwiw angegriffen haben.“ Das Gespräch mit Matviychuk ist gerade zu Ende, da weht der Wind erneut das Heulen der Sirenen über die Felder vor dem Dorf. Matviychuk zeigt in den wolkenverhangenen Himmel. „Hörst du? Es hört nicht auf.“

Hnat Herych (32), Chirurg in Lwiw

Foto: Reto Klar

„Es gibt kein Gesundheitssystem auf dieser Welt das auf einen Krieg vorbereitet ist, in dem Gesundheitseinrichtungen angegriffen werden“, sagt Doktor Hnat Herych. Der junge Arzt leitet die Chirurgie des städtischen Notfallkrankenhaus von Lwiw (Lemberg), die größte chirurgische Abteilung in der Westukraine. Seit dem Beginn des Krieges arbeitet der 32-jährige Chirurg rund um die Uhr. Er hat schon über 100 Patienten mit Kriegsverletzungen behandeln müssen und das, obwohl der Krieg vor allem im Osten des Landes tobt.

Er stammt aus einer Medizinerfamilie, sein Vater musste zu Zeiten der Sowjetunion als Chirurg in den Krieg nach Afghanistan ziehen. „Er hat mir schon 2014 gesagt, dass er zu 100 Prozent davon ausgeht, dass Russland eine Invasion in der Ukraine durchführen wird.“ Als Putin am 24. Februar die Ukraine überfallen hat, war Herych gerade in der Türkei. „Das war sehr schlimm.“ Er ist dann über Istanbul, Wien und die Slowakei zurückgereist.

„Ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um den ukrainischen Streitkräften und der Bevölkerung zu helfen.“ Unter den Patienten, die er bislang behandelt hat, seien auch etliche gewesen, die vermutlich von international geächteter Streu-Munition oder von mit Uran gehärteter Munition verletzt wurden. „Wir hören oft schlimme Geschichten von den Leuten. Wir sind zwar Profis, aber das bleibt natürlich an uns hängen.“

Hanna Mykhaylivna (91), Rentnerin in Butsyn

Foto: Reto Klar

„Ich höre jeden Tag etwas Neues von Kindern, die getötet werden. Wie viele Kinder sollen denn noch sterben?“, fragt Hanna Mykhaylivna. Die alte Frau sitzt an dem Tisch in ihrem Haus mit dem großen Garten in Butsyn, einem Dorf im Oblast Wolyn, 50 Kilometer entfernt von der Grenze zu Belarus. Vor ihr steht ein kleines schwarze Radio. Das schaltet sie jeden Morgen nach dem Aufstehen an, und dann hört sie den Berichten zu und kann es nicht glauben, dass wieder ein Krieg begonnen hat. Im letzten Krieg vor 80 Jahren war sie ein kleines Mädchen, und der Feind kam von Westen.

„Damals kamen Fahrzeuge in unser Dorf, solche Fahrzeuge hatten wir noch nie gesehen. Die Leute haben in einer fremden Sprache geredet. Das waren die Deutschen.“ Später bekamen die Bewohner von Budsyn mit, dass diese Deutschen von der berüchtigten Gestapo waren. „Da hatten wir sehr viel Angst.“ Die Deutschen seien für einige Monate dageblieben. „Aber es wurde kein Mensch aus unserem Dorf getötet.“ Dann überlegt sie ein wenig. Es fällt ihr nicht leicht, die Gedanken zu ordnen. „Die Partisanen und die Deutschen haben gekämpft, dann haben die Deutschen Häuser verbrannt.“

In den Jahren nach dem großen Krieg hat sie als Lehrerin gearbeitet, für Mathematik und Physik. „Ich war Schulinspektorin“, sagt sie, es klingt stolz. Jetzt ist sie 91 Jahre alt. An der Wand in dem Raum, in dem sie Radio hört, hängen die Hochzeitsbilder ihrer Kinder und ihres Enkels und das von ihrer Hochzeit. Als sie die Bilder anschaut, winkt sie ab und lacht und ihr Gesicht wirkt plötzlich mädchenhaft. Dann schüttelt sie den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist gerade alles sehr verrückt.“


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